"Vergiß die Armen nicht!" - Ein Aufruf unseres Provinzialministers P. Cornelius Bohl ofm

Natürlich ärgere ich mich, wenn ich einmal etwas vergesse, den Anruf zu einem Geburtstag oder die Zahnbürste auf einer Reise. Aber wirklich schlimm sind solche kleinen Vergesslichkeiten normalerweise nicht. Etwas ganz Anderes ist es, wenn ein Mensch das Gefühl hat, vergessen worden zu sein. Bin ich so unwichtig für einen anderen, dass er die Verabredung mit mir vergisst und mich einfach sitzen lässt? Oder: Allen wird gedankt, nur mir nicht, dabei habe ich mich doch so engagiert. Wieso hat man mich vergessen? Wie sehr verletzt das einen Menschen, von alten Freunden oder vielleicht sogar von den eigenen Kindern vergessen zu sein. Ich spiele keine Rolle, man hat mich vergessen …

Die ersten öffentlichen Auftritte von Papst Franziskus und die Akzente, die er dabei gesetzt hat, haben in den letzten Wochen viele Menschen bewegt. Bei einem Treffen mit Medienvertretern hat er selbst erzählt, warum er sich für unseren großen kleinen Bruder aus Assisi als neuen Namenspatron entschieden hat: „Bei der Wahl saß neben mir der emeritierte Erzbischof von São Paolo, Kardinal Claudio Hummes – ein großer Freund! Als die Sache sich zuspitzte, hat er mich bestärkt. Und als die Stimmen zwei Drittel erreichten, erscholl der übliche Applaus, da der Papst gewählt war. Und er umarmte, küsste mich und sagte mir: ‚Vergiss die Armen nicht!‘ Und da setzte sich dieses Wort in mir fest: die Armen, die Armen. Dann sofort habe ich an Franz von Assisi gedacht. Dann habe ich an die Kriege gedacht, während die Auszählung voranschritt. Und Franziskus ist der Mann des Friedens. So ist mir der Name ins Herz gedrungen: Franz von Assisi. Er ist für mich der Mann der Armut, der Mann des Friedens, der Mann, der die Schöpfung liebt und bewahrt. Gegenwärtig haben auch wir eine nicht sehr gute Beziehung zur Schöpfung. Ach, wie möchte ich eine arme Kirche für die Armen!”

Vergiss die Armen nicht! Papst Franziskus hat schon in den ersten Wochen seiner Amtszeit durch viele Zeichen deutlich gemacht, dass er die Menschen am Rand, die so leicht übersehen werden, nicht vergessen will. Der Abendmahlsgottesdienst am Gründonnerstag mit jugendlichen Straftätern in einem römischen Gefängnis hat viele irritiert. In Ansprachen zitiert er nicht nur Theologen und Denker, sondern erzählt von Begegnungen mit einfachen Menschen, die für ihn wichtig waren. Und sein bewusst einfacher Lebensstil ist logische Konsequenz seines leidenschaftlichen Eintretens für benachteiligte und unterdrückte Menschen, das ihn schon als Kardinal von Buenos Aires ausgezeichnet hat.

„Papst Franziskus.“ Diese Wortverbindung lässt mich auch Wochen nach der Wahl des neuen Bischofs von Rom immer noch aufhorchen. Gerade als Minderbrüder waren wir eher eine andere Formulierung gewohnt: „Franziskus und der Papst“. Als der Büßer aus Assisi 1209 in Rom auf Innozenz III. trifft, begegnet ein unscheinbarer Mann, der seinen Platz am Rand der Gesellschaft gewählt hat, einem der einflussreichsten Politiker seiner Zeit. Dieser Innozenz übrigens hatte in der Nacht zuvor einen Alptraum: Er sah seine Kirche am Einstürzen! Da habe sie ein kleiner Mann mit seinen Schultern gestützt. Das ist eine provozierende Vision. Arme sind oft lästig. Sie werden gerne vergessen und spielen keine Rolle. Im Traum des Papstes ist es ein Armer, der die Kirche stützt und erneuert. Ein reicher und mächtiger Papst, der seine Ängste eingesteht und dennoch seinen Träumen traut, und ein kleiner Armer, der auf Christus hört und aus einer ins Schwanken gekommenen Kirche nicht aussteigt, sondern anpackt – was für eine Vision, wenn das zusammen kommt!

Vergiss die Armen nicht! Ich bin in den letzten Wochen oft gefragt worden, ob uns Franziskaner die Namenswahl des Papstes freut. Sicher, das auch. Vor allem aber empfinde ich sie als Herausforderung für uns alle in der franziskanischen Familie. Franz von Assisi - dieser Name weckt in vielen Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche große Hoffnungen und Erwartungen. Und es ist nicht nur die Frage, was davon der neue Papst erfüllen kann, sondern vor allem auch, wie wir franziskanische Brüder und Schwestern unsere Berufung leben.

Vergiss die Armen nicht! Dieses Wort wurde Papst Franziskus mitgegeben in sein Pontifikat. Ich glaube, dass er dieses Wort uns mitgibt! Wer die Armen vergisst, vergisst einen wesentlichen Teil seiner christlichen Berufung. Wer die Armen vergisst, vergisst Christus.