"Zwei Jahre in Vietnam" - ein Erfahrungsbericht von Br. Chi Thien Vu ofm

Der in Vietnam geborene und in Deutschland aufgewachsene Franziskaner Br. Chi Thien Vu hat bis Ende 2019 zwei Jahre lang seine ehemalige Heimat bereist, um das Land, seine Mitbrüder und vor allem deren Arbeit dort intensiver kennen zu lernen. Seit einigen Monaten arbeitet Br. Chi Thien nun als Vikar in der St. Franziskus-Gemeinde hier bei uns in Dortmund. Da er unser Verbindungsmann zu den vielen von uns unterstützten Hilfsprojekten in Vietnam ist, sind wir sehr froh, ihn im selben Hause zu haben.

Über seine Erfahrungen in Vietnam hat Br. Chi Thien kürzlich ein längeren Bericht verfaßt, den wir hier gerne mit Ihnen teilen möchten:

"Über 1.000 Jahre war Vietnam von China dominiert, wovon die Kultur des Landes bis heute geprägt ist. Nach den Chinesen waren ab dem 19. Jahrhundert die Franzosen die beherrschende Kraft. Als sich Vietnam militärisch 1954 von der Kolonialmacht Frankreich befreit hatte, kam es zur Teilung des Landes. Während im Norden die kommunistische Partei die Macht innehatte, wurde der Süden von korrupten, autoritären Regimen mit Unterstützung der USA beherrscht. Nach einem zehnjährigen, das Land fast völlig zerstörenden Krieg zogen die letzten US-amerikanischen Streitkräfte ab und Vietnam wurde 1975 zur Sozialistischen Republik. Hunger und Unterdrückung führten in den Folgejahren zur Flucht von Hunderttausenden Menschen. Darunter auch ein 10jähriger Junge, der zusammen mit seinen Eltern und Verwandten über das Meer floh: Ich, Chi Thien Vu.

Als Flüchtlingskind kam ich 1983 mit 10 Jahren nach Deutschland. Heute bin ich Franziskaner und Priester und stehe zwischen zwei Welten. Ich bin Deutscher, bin in Deutschland aufgewachsen und habe die Werte dieser Gesellschaft verinnerlicht: Menschenrechte, Würde jedes Einzelnen, Demokratie und Meinungsfreiheit sind für mich selbstverständlich. Gleichzeitig bin ich Vietnamese. Das sieht man mir deutlich an. Meine Familie hat auch in der neuen Heimat ihre kulturellen Wurzeln gepflegt und ihre Bräuche und Traditionen an uns Kinder weitergegeben. Die Ordnung des Konfuzianismus, die Ehrung der Ahnen und die Verpflichtung gegenüber der Familie sind auch Teil meines Lebens.

In den letzten Jahren habe ich im Auftrag der Franziskaner Mission Dortmund, die auch einige Projekte in Vietnam fördert, die Korrespondenz mit der Vietnamesischen Franziskanerprovinz geführt. Dieser Kontakt mit den Brüdern aus dem Land meiner Vorfahren weckte in mir den Wunsch, das Land, die Situation der Kirche und die Arbeit der Franziskanerprovinz dort näher kennen zu lernen. Um dies zu tun und um mögliche Kooperationsprojekte auszuloten, konnte ich zwei Jahre lang mit den Mitbrüdern in Vietnam zusammenleben und -arbeiten.

Eine junge, stark wachsende Franziskanerprovinz

Die Franziskanerprovinz in Vietnam zählt zu den jüngsten Provinzen innerhalb des Weltordens. 1929, während der französischen Kolonialzeit, wurde sie gegründet, erlebte nach der Machtübernahme der Kommunisten eine sehr schwierige Zeit und erhielt erst 1983 einen eigenständigen Provinzstatus. Bemerkenswert sind heute vor allem die vielen jungen Brüder: Mehr als 250 Brüder leben und arbeiten in Vietnam oder als Missionare in benachbarten Ländern. Weitere 103 Brüder sind derzeit in Ausbildung und Studium, die meisten von ihnen wollen Priester werden. 33 Brüder absolvieren die Grundausbildung, 55 junge Männer befinden sich in Begleitung und bereiten sich auf den Ordenseintritt vor. Das sind erstaunliche Zahlen, so ganz anders als derzeit in Deutschland.

Ihre Berufung finden die vielen jungen Männer in ihren Heimatgemeinden, in denen Franziskaner für die Seelsorge verantwortlich sind. Sie kommen meist aus sehr einfachen Verhältnissen. Ein Eintritt in den Orden kommt einem gesellschaftlichen Aufstieg gleich. Vor allem als Priester erfährt man, in dem sehr traditionell geprägten Land, eine hohe Wertschätzung. Aber es geht nicht nur um Karriere und Ansehen, denn die Franziskaner leben in Vietnam sehr einfach und bescheiden inmitten der Bevölkerung. Es ist dieses Beispiel von Demut und nachbarschaftlichem Engagement, das Menschen anspricht.

Bruder Chi Thien Vu OFM.

Das Ordensleben ist stark geprägt von der vietnamesischen Gesellschaft. Ich habe eine, für meinen deutschen Blick, sehr befremdliche, hierarchische Struktur erlebt. Das Wort des Provinzialministers oder Guardians wird nicht hinterfragt, auch wenn man anderer Meinung ist. Hier scheint die Lehre des Konfuzianismus durch, die den Dingen eine fast sklavische Ordnung und Struktur gibt, aber auch das kommunistische System. Denn in der vietnamesischen Gesellschaft ist es nicht angeraten, gegenüber einer Autorität die Stimme zu erheben.

„Die roten Kapitalisten“

Die mehr als 95 Millionen Einwohner der Sozialistischen Republik Vietnam werden von einer Partei regiert, die in den letzten Jahrzehnten die kommunistische Grundordnung mit einem kapitalistischen Denken kombiniert hat. Sie nutzt den kommunistischen Regierungsapparat als Instrument für ihren Machterhalt und sichert sich mit Werkzeugen einer Diktatur maximalen wirtschaftlichen Gewinn und Reichtum für die herrschende Parteiklasse. Unter vorgehaltener Hand werden sie im Volk die „roten Kapitalisten“ genannt. Es herrscht ein System der Korruption, in das auch Militär und Polizei verstrickt sind. Parteifunktionäre werden oft von Großinvestoren bestochen. Diese hebeln dann ganz legal Umweltschutzauflagen und Arbeiterrechte aus, um größtmögliche Gewinne zu realisieren. Oft stecken hinter den Investoren Geldgeber aus dem Nachbarland China. Aus Sorge um die eigene Nation gibt es Aktivisten, die dieses Unrecht und die radikale Expansion Chinas offen beim Namen nennen. Sie werden von der Regierung jedoch schnell mundtot gemacht.

Auch Brüder, die sich mit dem System anlegen, haben kaum Rückhalt bei der Ordensleitung. Das durfte ich erleben, als ein junger Mitbruder an einem öffentlichen Protest gegen Landenteignung in seiner Gemeinde teilnahm und verhaftet wurde. Das hat „den Deutschen“ in mir wütend gemacht, mich aber als Christ auch beeindruckt. Denn die Franziskaner sind der Regierung gegenüber generell sehr zurückhaltend und versuchen, sich aus allem Ärger rauszuhalten. Sie wollen einfach ihre Arbeit tun und den Menschen helfen, und das können sie nicht vom Gefängnis aus.

Kleine Gemeinschaften mitten unter den Menschen

Die Mehrzahl der Menschen in Vietnam lebt in ländlichen Regionen. Vor allem die ethnischen Minderheiten, die in 53 verschiedenen Gruppen rund 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind abgehängt von Fortschritt und grundlegender Infrastruktur. So ist die Müllentsorgung häufig nur unzureichend organisiert, wilde Müllkippen sind die Folge. Wegen fehlender Kläranlagen sind Gewässer verschmutzt und es herrscht Krankheitsgefahr. Zweimal konnte ich hier mit Unterstützung der Franziskaner Mission und Spenden aus Deutschland Wasserbrunnen und Filteranlagen auf den Weg bringen.

Der vietnamesische Markt wird mit minderwertigen Medikamenten aus China beliefert, die nur die Hälfte des in westlichen Ländern üblichen Wirkungsgrads erreichen. Sexuelle Aufklärung ist ein Tabuthema, die Zahl der Abtreibungen ist sehr hoch, AIDS allgegenwärtig. Den Menschen fehlt das Bewusstsein für ein gesundes Leben und ein vernünftiges Bildungssystem.

Hier setzen die Franziskaner an. Die Feier der Heiligen Messe hat für die Identität der Christen einen sehr hohen Stellenwert. Die Gemeindeleiter sind aber nicht nur als Katecheten ausgebildet. Neben Religion wird in den Dorfschulen der Christen auch Hygiene, Gesundheit und ein guter Umgang mit der Schöpfung gelehrt. Auch helfen die Brüder, in den Dörfern die jeweiligen kulturellen Traditionen und Bräuche zu bewahren, und geben dem Glauben damit eine Heimat. Da viele nur die Muttersprache ihrer Ethnie sprechen, steht auch Vietnamesisch und Englisch auf dem Stundenplan. Ich selbst habe fünf Monate in der Diözese Lang Song im Nordosten mitgelebt und durfte in einer Klasse Englisch-Nachhilfe geben. Die Brüder leben meist in kleinen Fraternitäten mitten in der Gemeinde. Wie ihre Nachbarn auch, erwirtschaften sie dort ihren Lebensunterhalt mit einer kleinen Landwirtschaft, auch wenn der Boden in den gebirgigen Regionen karg ist und Reis, das Grundnahrungsmittel Nr. 1 in Vietnam, sich nicht so gut anbauen lässt wie im Mekong-Delta im Süden.

Ich weiß, wo ich hingehöre

Viele Jugendliche träumen von einem modernen Leben in der Großstadt. Doch sie landen meist in einem Elendsviertel, wenn sie versuchen, ihren Traum zu verwirklichen. Denn auch im sozialistischen Vietnam sieht es nicht anders aus als im kapitalistischen Indien oder Brasilien: Die Reichen, meist Angehörige der herrschenden Mehrheitsbevölkerungsgruppe der Kinh/Viet, leben in schicken Retortenvierteln, während die armen Landflüchtlinge in unterentwickelten Gegenden hausen. Auch hier versuchen die Franziskaner präsent zu sein mit einer christlichen Gemeinde, mit Nachbarschaftshilfe und Unterricht, oft auch mit einer kleinen Arztpraxis. In einigen Großstädten und auch in der größten Stadt des Landes Ho Chi Minh Stadt (ehemals Saigon) unterhält die Provinz Wohngemeinschaften, in denen die Jugendlichen vom Land während ihres Studiums eine geistliche Heimat und Gemeinschaft finden, damit sie nicht vereinsamen und während ihres Zwangsstudiums der Lehren von Marx und Lenin sich immer wieder auch christlich erden können.

Christliche und menschliche Erdung war auch das Thema für mich, wenn ich zurückblicke auf diese Erfahrung. Zwei Jahre war ich in Vietnam und hatte die Gelegenheit, den beiden Herzen in meiner Seele Raum zur Auseinandersetzung zu geben. Heute sehe ich es als eine Bereicherung, nicht mehr als Konflikt, wenn ich versuche, sowohl meine vietnamesischen Wurzeln als auch mein deutsches Selbstverständnis gleichzeitig zu leben. Ich habe mich in Vietnam selbst neu entdeckt und weiß heute, als Gemeindeseelsorger in Dortmund, mehr denn je, wer ich bin und wo ich hingehöre."